Mittwoch, 15. Oktober 2014

Unglaubliches Indien

Es sind einige Wochen vergangen seit meinem letzten Post. Ich habe in der Zwischenzeit viel gesehen, erlebt, erfahren und gelernt. Um diesen Post übersichtlich zu halten, gibt es hier eine Highlight-Liste. Es ist eine Sammlung von Beobachtungen, Dingen oder Erlebnissen, die mir in Erinnerung geblieben sind, die sich besonders von der eigenen Kultur abheben oder die einfach so erwähnenswert sind.

1. Das Mädchenheim
Zunächst noch ein paar Worte zu meiner Einsatzstelle, in der ich jetzt seit einigen Wochen arbeite. Im Moment wohnen 23 Mädchen im Alter von 3 bis 16 Jahren im SEERS (Socio Economic Education Rehabilitation Society) Girls Home. Die meisten kommen aus Familien, die auf der Straße leben und die Kinder finanziell nicht unterhalten können, bzw. ihnen keine Schulbildung ermöglichen können. SEERS hat sich auf die Fahne geschrieben, den Mädchen Schutz, ausgewogene Ernährung, angemessene Hygiene und gute Bildung zur Verfügung zu stellen, bzw. zu ermöglichen. Unterstützt wird das Mädchenheim durch finanzielle und materielle Spenden. In den letzten Wochen waren mehrmals Spender vor Ort, die z.B. eine warme Mahlzeit oder neue Kleidung für alle mitgebracht haben. Auch ein neuer Gasherd wurde gespendet und die Kinder wurden zu einem musikalischen Programm anlässlich von Diwali (oder Dipavali, siehe Punkt 10) eingeladen.

2. Die Arbeit mit den Kindern
Unter der Woche ist unsere Zeit mit den Mädchen ziemlich begrenzt. Alle gehen zur Schule und kommen um 15:30 Uhr nach Hause. Von 16 bis 18 Uhr haben wir theoretisch Zeit etwas vorher Geplantes in die Tat umzusetzen. Bisher ist das jedoch leider noch so gut wie gar nicht passiert. Zum einen mussten wir feststellen, dass es schwierig ist, mit Indern Absprachen zu treffen und Pläne zu machen. Alles dauert hier viel länger als bei uns und wir warten immer noch darauf, dass die Arbeit richtig losgeht. Zum anderen verschiebt sich aber auch oft der Zeitplan, sodass letztlich sowieso sehr wenig Zeit bleibt, etwas zu tun. Ein weiteres Problem ist die Sprache. Die meisten Mädchen sprechen nur so viel Englisch wie Sabine und ich Tamil, sodass die Kommunikation oftmals durch Hände und Füße, Zeichnungen oder aber Übersetzung vonstatten geht. Aufgrund der großen Altersspanne ist es außerdem schwierig alle unter einen Hut zu bekommen. Bisher haben wir viele kleine Spiele ohne viel Material gespielt, Geschichten und Märchen erzählt (mit Hilfe von Zeichnungen oder Übersetzungen), zusammen gemalt, gesungen und getanzt. Zwischendurch haben die Mädchen uns immer mal wieder ein paar Brocken Tamil beigebracht (ich weiß mittlerweile fast alle Körperteile zu benennen) und wir ihnen im Gegenzug ein paar neue englische Wörter. Für künftige Aktivitäten überlegen wir die Gruppe aufzusplitten oder samstags, wenn die Kinder den ganzen Tag da sind, Workshops anzubieten, an denen dann freiwillig teilgenommen werden kann. Unsere Ideen gehen in alle Richtungen: Sportliche Aktivitäten auf dem großen Rasenfeld, das direkt neben dem Heim liegt (von Yoga über Akrobatik bis hin zu Frisbee), Kreatives (Basteln, Malen, Stoffe färben...), Musikalisches (Singen, Klatsch- und Rhythmus-Spiele, Tanzen...) und Ausflüge an den Strand, in Museen etc.

3. Der Umgang im Heim
Generell lässt sich sagen, dass der Umgang bei SEERS sehr familiär ist. Die Familie des Direktors, Mr. Kalyana-Sundaram, ist ständig im Heim anzutreffen und uns wurde auch am ersten Tag mitgeteilt, wir seien jetzt Teil der SEERS-Familie. Die vier ältesten Mädchen sind zu ¨leaders¨ ernannt worden und kümmern sich darum, dass die Jüngeren die Regeln einhalten, geben Essen aus und sorgen für Ruhe, wenn Besuch da ist. Dabei werden auch gerne kleine Schläge verteilt. Ich habe in den letzten Wochen beobachtet, dass ein gewisses Maß an Gewalt in der Erziehung und im Umgang miteinander hier normal ist. Teils habe ich sogar das Gefühl, dass es liebevoll gemeinte Gesten sind. Es wird in Wangen und Lippen gezwickt, anschließend wird die Hand wie zu einem Handkuss zum eigenen Mund geführt. Die Mädchen machen das auch untereinander, wollen es auch bei mir machen. Mir gegenüber sind die Mädels mittlerweile sehr zutraulich geworden. Ich werde nur noch ¨Norakka¨ genannt, eine Zusammensetzung aus meinem Namen und ¨Akka¨, was große Schwester auf Tamil heißt. Faszinierend wirken auf die Mädchen meine Haut-, Haar-, und Augenfarbe. Immer wieder kommen Beschreibungen wie ¨sand-colour¨ für die Haut, ¨hair dyed?¨ oder ¨cat eyes¨.

4. Gewalt vs. Sexualität
Das schon im oberen Punkt erwähnte andere Verhältnis zu Gewalt spiegelt sich auch in Filmen wider, die die Mädchen sich ansehen. Schon mehrmals wollten sie mit uns Horrorfilme ansehen, in denen dann Arme abgeschnitten werden und das Blut spritzt. Filme, die in Deutschland FSK16 sein würden, werden hier von Dreijährigen angesehen. Ein hier allseits beliebter Film, den wir uns auch in unserer ersten Woche im Kino angesehen haben, dreht sich um einen männlichen Helden, der im Laufe des Films diverse Menschen umbringt, größtenteils ohne ersichtlichen Grund. Auf mich wirkte der Film gewaltverherrlichend, der Protagonist wurde zunehmend von der Protagonistin angehimmelt, je mehr Kämpfe er gewann. Eine Frage, die sich mir stellt, ist: Sind die Filme aufgrund der Mentalität so oder tragen die Filme dazu bei, dass das Verhältnis zur Gewalt so ist, wie es ist?  Sehr entgegengesetzt ist das Verhältnis zu Sexualtität. Die Kollegen im Heim lassen die Mädchen ohne Vorbehalte oben genannte Gewalthandlungen ansehen, doch bei der kleinsten romantischen Annäherung zwischen Mann und Frau wird der Film vorgespult, z.B. wenn es zum angedeuteten Kuss kommt oder zu einer zärtlichen Umarmung. 

Heute kam das Gespräch zwischen unserem Mentor und mir durch Zufall auf die Verhütung mit der Anti-Baby-Pille und er hat mir erklärt, dass man Mädchen in Indien erst mit 18 Jahren erklärt, was es damit auf sich hat. Ich habe erwähnt, dass man das in Deutschland wesentlich früher macht, spätestens mit 12 oder 13 Jahren, woraufhin er mich entgeistert angeschaut hat. Außerdem habe ich vorsichtig angemerkt, dass es angesichts der hohen Geburtenrate in Indien vielleicht nicht schlecht wäre, mal darüber nachzudenken, das Thema auch hier etwas früher anzusprechen. Das große Problem bei der Sache ist, dass Sexualität hier ein echtes Tabu-Thema ist, man spricht einfach überhaupt nicht darüber. Obwohl ich es sehr wichtig fände, die Mädchen in dieser Hinsicht aufzuklären, weiß ich nicht, ob es möglich sein wird, das innerhalb meiner Zeit hier durchzusetzen.

5. Religion
Faszinierend wirkt auf mich, wie offen die Menschen hier mit ihrer Religion umgehen. Was bei uns in Deutschland in den Bereich des Privaten fällt, wird hier öffentlich zur Schau getragen. Hindu-Frauen erkennt man an den Punkten auf der Stirn (Pottu auf Tamil), Zehenringen (ein Zeichen dafür, dass sie verheiratet sind) oder daran, dass Gesicht, Hände und Füße mit Kurkuma gelb gefärbt sind. Christen lassen sich nicht so sehr an Zeichen am Körper selbst erkennen, dafür steht am Auto groß ¨God bless you¨ ¨Jesus loves you¨  oder ¨I love God¨. Im Bus wurde ich schon dreimal gefragt: ¨Jesus Christ??¨ Es ist hier auch müßig zu erklären, dass man sich weder Hinduismus, noch Christentum zugehörig fühlt. Man wird nur entgeistert angeschaut.

6. Gents first
Aus Höflichkeit der Dame den Vortritt zu lassen, kennt man hier in Indien nicht. Männer werden in Restaurants grundsätzlich als erstes bedient. Einmal ist es uns nach dem Essen passiert, dass der einzige Mann der Runde gerade auf Toilette war, als der Kellner die Rechnung bringen wollte. Dieser ist dann so lange um den Tisch herumgeschlichen, bis unser Hahn im Korb wieder auf seinem Platz saß. Erst dann ist er zum Tisch gekommen und hat das Rechnungsetui vor ihm abgelegt.

7. Politische Emotionalität
In unserer dritten Woche hier ist die ehemalige Schauspielerin und ¨Chief Ministerin¨ von Tamil Nadu, J.Jayalalithaa, wegen Korruption verurteilt worden. Der Prozess hatte 18 Jahre gedauert, war zwischendurch nach Bangalore verlagert und mit anderem Gericht neu aufgerollt worden. Schon vorher war mir aufgefallen, dass nicht nur an vielen Mauern am Straßenrand ihr Gesicht prangte, sondern sie mir auch von Rucksäcken, Wasserflaschen und Kopfbedeckungen entgegenblickte. Viele hier nennen sie nur ¨Amma¨, was Tamil für Mutter ist. Sie wird bewundert, für das, was sie erreicht hat. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung wurden in Chennai nahezu alle Läden geschlossen, wir Freiwilligen wurden nach Hause geschickt und angewiesen, das Haus an dem Tag nicht mehr zu verlassen. Aufgrund des Urteils gab es politische Unruhen, sogar ein Bus wurde angezündet. Die Emotionalität, mit der die Menschen hier auf das Urteil reagiert haben, hat mich überrascht. In Deutschland würden die Menschen zwar auch reden, wenn nun z.B. Angela Merkel verurteilt würde und vielleicht gäbe es auch verschiedene Meinungen, die ausdiskutiert würden, aber die meisten würden es wohl achselzuckend hinnehmen und sagen, geschieht ihr recht, wenn sie nunmal korrupt war. Diese Seite gibt es hier auch, die Menschen, die sie nicht anhimmeln, sagen, es ist gut, dass sie verurteilt wurde und sie keine Immunität aufgrund ihres Status genießt. Sie sehen es als Zeichen gegen Korruption in Indien.

8. Gastfreundlichkeit
Die Gastfreundlichkeit, für die die Inder über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind, konnte ich selbst schon am eigenen Leib erfahren. Wenn man eine Wohnung betritt, wird einem häufig, ohne gefragt worden zu sein, ein Tee serviert. Oft wird auch ein Mittag- oder Abendessen angeboten, je nachdem, zu welcher Tageszeit der Besuch stattfindet. Mit dem Essen sind die Inder außerdem sehr großzügig. Ich habe mir angewöhnt, sehr deutlich zu machen, wenn ich nur wenig essen möchte, weil es ansonsten schnell passiert, dass ein ganzer Berg Reis auf meinem Teller landet.

9. Monsunzeit
Die ¨rainy season¨ hat nun endgültig begonnen. Die ersten Wochen hier waren noch relativ trocken, es kam nur ab und an ein kräftiger Schauer vom Himmel und dann war wieder Ruhe. Es wurde schon vermutet, dass es das 15. Jahr ist, in dem die Monsunzeit außergewöhnlich trocken ist. Jetzt regnet es aber doch fast jeden Tag, oft über mehrere Stunden hinweg. Man tut gut daran, immer einen Schirm dabei zu haben, weil es oft überraschend anfängt. Wegen des ständigen Regens hat es auch deutlich abgekühlt, auf etwa 25 Grad. Das ist wiederum ganz angenehm, im Moment brauchen wir nachts nicht einmal den Ventilator anzuschalten, um schlafen zu können.

10. Diwali oder Dipavali
Gestern war Diwali, oder besser gesagt Dipavali, wie es auf Tamil genannt wird. Schon 10 Tage im Voraus haben die Leute angefangen, auf der Straße Böller anzuzünden, je näher das Fest rückte, desto mehr wurden es. Dann war er da, der große Tag. Dipavali ist hier sowas wie Weihnachten, die Mädchen im Heim haben uns schon Wochen im Voraus immer wieder gefragt, ob wir an dem Tag da sein und was wir anziehen würden. Sie selbst hatten, wie oben schon erwähnt, extra neue Kleider geschenkt bekommen und der Festtag war mit Vorfreude erwartet worden. Wir waren eingeladen worden, den ganzen Tag mit den Mädchen zu verbringen und anschließend auch im Heim zu übernachten. Der Tag bestand zum Großteil aus verschiedenen Mahlzeiten, das Frühstück wurde von Spendern ins Heim gebracht, zum Mittagessen sind wir außer Haus gewesen, das Abendessen wurde wieder im Heim eingenommen, zur Feier des Tages war Fleisch in den Reis gemischt. Mittags ging es dann zum Marina Beach, dem 15 km langen Sandstrand von Chennai. Dort hatten die Mädchen einen Heidenspaß beim Spiel mit den Wellen, obwohl fast keines von ihnen schwimmen kann und deshalb alle nur mit den Füßen im Wasser waren. Sabine und ich hatten unsere neuen Saris an, meiner aus dunkelroter Seide, ihrer aus dunkelblauer Baumwolle. Am Abend ging das Geballer der Feuerwerkskörper dann erst so richtig los. Fünf große Kästen mit verschiedenstem Feuerwerk waren im Voraus gespendet worden und die Mädchen hatten ihre Freude am Zünden der Knallkörper und Fontänen. Beim Anblick des Umgangs mit den Zündstäbchen ist mir ein bisschen schlecht geworden, ich und Sabine waren ständig dabei, zur Vorsicht zu mahnen und die Stäbchen von der Kiste mit den Knallkörpern fernzuhalten. Glücklicherweise ist alles gutgegangen und alle hatten Spaß, ohne Verbrennungen davonzutragen.
Heute geht das Geknalle immer noch weiter, laut unseres Mentors soll es noch eine Woche lang dauern. Mir geht das Geballer ziemlich auf die Nerven und ich frage mich, ob es wirklich sein muss, das Ganze so exzessiv zu zelebrieren. Das meiste macht sowieso nur Krach und verpestet sie Luft. Abgesehen davon sind die Straßen natürlich verschmutzter denn je. Ich werde von jetzt an jedenfalls immer an Silvester daran denken, wie ich Dipavali in Indien erlebt habe.


Zum Schluss noch ein paar Fotos, bunt gemischt von Dipavali und davor: 


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